Trauma und Trauer
Wenn Kinder in jungen Jahren gegen ihren Willen auf ein Internat gegeben werden, geraten sie in eine emotionale Achterbahn. Auch wenn ein Kind früh auf ein Internat gehen will, hat das wenig Auswirkungen darauf, was in dem Kind auf körperlicher Ebene geschieht. Ein Kind im Alter von bspw. 10 Jahren kann nicht einschätzen, was es bedeutet, auf sich allein gestellt zu sein, in einem solchen System. Am Ende ist es die Entscheidung der Eltern.
Die Trennung von vertrauten Gesichtern und dem gewohnten Zuhause ist für sie eine harte Realität. Manchmal haben diejenigen, die in ausländische Schulen geschickt werden, nicht einmal die Chance, in den Ferien nach Hause zu fahren. Diese Kinder kämpfen mit einem Verlust, den sie noch nicht verstehen können. Der schwere emotionale Stress, den sie erleben, bleibt oft im Verborgenen, aus Angst vor Hänseleien oder Spott. Auf meinem zweiten Internat lebten einige Schüler/-innen aus dem asiatischen Raum. Sie konnten, wenn überhaupt, nur in den Ferien nach Hause.
Selbst diejenigen, die in bestimmten Abständen nach Hause zurückkehren können, durchleben erneut das Trauma, wenn sie nach den Heimfahrtwochenenden zurückkehren. Es entsteht ein zyklisches Muster von zerstörten Bindungen und Trauer.
Die erzwungene Trennung von den Eltern führt zu Traumatisierung, da das Kind lernen muss, ohne die vertraute Nähe seiner Eltern oder engen Bezugspersonen zu existieren. Es ist, als ob man bereits in jungen Jahren lernen müsse, ohne die Liebe zu leben. Leider wird dieser schmerzhafte Verlust von den Erwachsenen oft heruntergespielt, während das Kind im Stillen unter Heimweh leidet, das psychologisch betrachtet eher einem Trauerfall gleicht. Kinder lernen, ihre wahren Gefühle zu verbergen, da Tränen auf einem Internat oft nicht erwünscht sind oder sogar Gefahr bedeuten. Sie entwickeln eine “defensive und schützende Einkapselung ihres Selbst".
Mobbing, Missbrauch
Selbstverständlich gibt es Mobbing auch in anderen Schulen, doch ein grundlegender Unterschied zu Internaten ist die Unerbittlichkeit. Die Schüler halten sich dort 24 Stunden, sieben Tage die Woche auf. Es gibt dort keinen Ausweg und keine Eltern oder Geschwister, die eingreifen könnten. In diesem isolierten Umfeld sind sie auf sich allein gestellt, und der Mangel an familiärer Unterstützung macht die Situation umso belastender. Teilweise wohnt der Feind sogar im selben Zimmer.
Auch sexueller Missbrauch ist in Internaten weit verbreitet. Die Abwesenheit von Eltern, die auf Anzeichen für Missbrauch aufmerksam werden könnten, macht es Täterinnen und Tätern in Internaten leichter. Kinder können die Situation auch missverstehen und die ihnen entgegengebrachte Aufmerksamkeit begrüßen, wenn sie sich von ihren Eltern allein gelassen fühlen. Auf meinem ersten Internat wurden 2010 zahlreiche Missbrauchsfälle gemeldet.
Internate sind auch berüchtigt für Aufnahmerituale. Zeremonien, Traditionen, die von sogenanntem “harmlosen Spaß” bis hin zu Zwischenfällen mit körperlichem oder sexuellem Missbrauch reichen. Es handelt sich um hochgradig traumatisierende Erfahrungen, die tiefe emotionale Narben bei den Kindern hinterlassen.
Die Dissoziation als Überlebensstrategie
Bei Dissoziation handelt es sich um einen Bruch, in der Art und Weise, wie der Verstand mit Informationen umgeht. Eine Person kann sich von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, der Umgebung oder sogar der eigenen Identität abspalten. Sich von emotionalen Turbulenzen zu distanzieren, ist eine bei Internatsschüler/-innen gängige Überlebenstechnik.
Es ist ein Überlebensmechanismus, der Internatskindern hilft, ihre traumatischen und belastenden Situationen zu bewältigen.
Kurz gesagt: “Wenn die Gefahr zu groß wird, entfernen wir uns von unserem eigenen Körper." Das ist einer der Gründe, warum ehemalige Internatskinder oft Schwierigkeiten haben, Emotionen und Gefühle zu erkennen und zu spüren.
Mögliche Folgen im Erwachsenenalter
Auch Nick Duffell, Psychotherapeut und ehemaliger Internatsschüler sowie Internatslehrer, beobachtet, dass Kinder, die in jungen Jahren ihre Familien verlassen haben, in Internaten "überleben", indem sie ihre Gefühle unterdrücken und ein defensives Ich aufbauen.
“Vorzeitig von ihrem Zuhause und der Familie getrennt, müssen sie sich schnellstens als ein “selbstständiger Pseudo-Erwachsener” neu erfinden”, erklärt er.
Die Auswirkungen beschreibt Duffell so: “Paradoxerweise kämpfen sie dann um eine richtige Reife, da das Kind, das organisch nicht heranwachsen durfte, sozusagen in ihnen feststeckt.”
Schaverien bezeichnet die Entwicklung einer Persönlichkeitsspaltung. “Es ist den zerbrochenen Bindungen, dem Verlust von Familie und Zuhause gemein, eine Spaltung in der Persönlichkeit zwischen dem gepanzerten Internatskind (Selbst) und dem empfindsamen, verletzlichen Zuhause-Kind (Selbst) zu verursachen.”
Duffell beschreibt seine Internats Erlebnisse auch als Erfahrung, bei der ein Kind stets wachsam sein muss, um keinen Ärger zu bekommen, und wo es auf keinen Fall unglücklich aussehen darf, weil es sonst Gefahr läuft, gemobbt zu werden. Ein Kind lernt schnell, dass es niemals und auf keine Weise verletzlich erscheinen darf und, laut Duffell, “trennt es sich so von all diesen Eigenschaften, projiziert sie auf andere und entwickelt eine zweideutige Persönlichkeit”.
Kinder, sagt er, bänden sich eher an die interne Struktur ihres Internats als an die Struktur ihrer Eltern und nehmen auf diese Weise “eine permanente unbewusste Angst” mit in das Erwachsenenalter hinein.
Ehemalige Internatsschüler/-innen mögen vielleicht sozial selbstsicher wirken, aber oft verbirgt sich dahinter ein tiefes Misstrauen gegenüber Beziehungen. Sie neigen dazu, sich vorzeitig aus Beziehungen zurückzuziehen, aus Angst vor Ablehnung. Das vorzeitige Beenden von Therapien kommt ebenfalls häufig vor bei Menschen mit Internats-Syndrom, da auch eine Therapie als eine Art Beziehung angesehen werden kann.
Behandlung
Die meisten Menschen, die unter dem sogenannten Internats-Syndrom leiden, suchen oft nicht aktiv nach Hilfe. Dieser Begriff ist keine medizinische Diagnose, sondern vielmehr eine Hypothese, die entwickelt wurde, um eine Reihe von Symptomen und Verhaltensweisen zu beschreiben. In vielen Fällen ist es wahrscheinlicher, dass Menschen Hilfe suchen, um mit allgemeinen Depressionen, Beziehungsschwierigkeiten oder anderen emotionalen Herausforderungen umzugehen.
Die Auswirkungen eines Internats auf eine Person werden oft von ihr selbst nicht erkannt. Stattdessen wird der Internatsaufenthalt als außergewöhnlich und privilegiert wahrgenommen. Vernachlässigung und Bindungsprobleme werden möglicherweise durch ein falsches Gefühl der Unabhängigkeit überdeckt. Die Auswirkungen von Internatserfahrungen und den Ereignissen vor der Internatszeit werden in der Regel erst im Rahmen von Therapie oder Coaching deutlich.